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Ist es gerecht, ungerecht zu sein?

Gerechtigkeit ist eine Maxime für das soziale, menschliche Leben. Aber was steckt hinter diesem Begriff und wie definiere ich Gerechtigkeit für mich persönlich? Es gibt Situationen im Leben, da kann man diese Frage ganz einfach für sich beantworten, aber dann gibt es auch immer wieder Situationen, in denen die Beantwortung dieser Frage fast unmöglich erscheint. Gerade Familienmitglieder aus Unternehmerfamilien sind oft mit solchen Dilemmata konfrontiert. Warum ist dem so? Wie ist Gerechtigkeit im Familienunternehmenskontext zu definieren? Das ist eine Frage, die mich bereits seit längerem beschäftigt, daher möchte ich Euch an meinen Gedanken zum Thema Gerechtigkeit im Familienunternehmen teilhaben haben lassen.

Um mich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, habe ich einen Blick in die Wissenschaft gewagt und mir zunächst einmal angeschaut, was die Besonderheiten von Familienunternehmen sind und was diesen Unternehmenstypus so einzigartig macht.

Familienunternehmen setzen sich aus den beiden Begriffen „Familie“ und „Unternehmen“ zusammen. Die beiden Begriffe werden dabei in der Wissenschaft auch als Systeme bezeichnet, die jeweils unterschiedliche Logiken aufweisen. Was sind die Unterschiede der beiden Systeme? Im System Familie gehört man als Familienmitglied selbstverständlich dazu, also es handelt sich um eine unkündbare Beziehung. Gleichzeitig werden erbrachte Leistungen nicht materiell, sondern eben durch Anerkennung und Dankbarkeit vergütet. Man sagt auch, die „Währung“ der Familie besteht aus Gefühlen, nicht aus Geld. Man vermittelt einander Anerkennung, Wertschätzung und Verbundenheit. Und die Kommunikation dieser Werte erfolgt mündlich und wenig formalisiert. Die Kommunikation innerhalb der Familie wird deshalb auch als „Bindungskommunikation“ beschrieben. Das System Familie wird somit insgesamt unter dem Aspekt der Bindung gesehen. Dieser Grundsatz gilt auch in Bezug auf das Thema Gerechtigkeit. Die überwiegende Anzahl an Familien vertreten demnach die Meinung: alle innerhalb der Familie sollten „das Gleiche“ bekommen und gleich behandelt werden. Gleichbehandlung ist demnach im System Familie mit Gerechtigkeit gleichzusetzen.

Das System Unternehmen funktioniert hingegen nach einer anderen Logik:

Unternehmen sind durch „Entscheidungskommunikation“ gekennzeichnet. Es geht primär um Produkte oder Dienstleistungen. Die Persönlichkeit des Menschen tritt vergleichsweise in den Hintergrund und die sachliche Funktion der Person wird bedeutsamer. Daher ist die Person auch zu einem gewissen Grad austauschbar bzw. kündbar. Die erbrachten Leistungen werden unmittelbar materiell in Form von Lohn oder Gehalt vergütet und die Kommunikation erfolgt formalisiert, ausgestattet mit gewissen Regeln. Auch in puncto Gerechtigkeit weisen die beiden Systeme Unterschiede auf. Während Gerechtigkeit im System Familie über Gleichbehandlung/Gleichheit hergestellt wird, wird im System Unternehmen Gerechtigkeit über Ungleichheit hergestellt. Das heißt, wer am meisten leistet und am besten qualifiziert ist, bekommt das beste Gehalt.

Gerechtigkeit wird demnach im System Familie anders als im System Unternehmen definiert. Was also, wenn man sich in beiden Systemen befindet? Sollte man sich dann für ein System entscheiden?

Ein Grundsatz, den ich mir persönlich früher gesetzt habe war: Sei gleichzeitig gerecht in beiden Systemen! Heute ist mir klar, dass dies unmöglich umsetzbar ist.

Angenommen ich hätte drei Kinder und die familieninterne Nachfolge des Familienunternehmens stünde an. Gemäß des Systems Familie wäre es nur gerecht, meinen Kindern jeweils 33% der Anteile des Familienunternehmens zu übergeben. Während im System Unternehmen die gleiche Verteilung der Anteile als nicht gerecht empfunden werden würde. Wie bereits angeführt, wird im Unternehmen Gerechtigkeit über Ungleichheit hergestellt. Das würde in diesem Fall bedeuten: wer am meisten leistet und am besten qualifiziert ist, bekommt die meisten Anteile.
In beiden Systemen gleichzeitig „gerecht“ zu sein, ist demnach unmöglich. Das führt natürlich zu Konfliktpotential.

In diesem expliziten Fall muss man sich also die Frage stellen: Muss Nachfolge gerecht sein? Oder ist es wohlmöglich auch gerecht, ungerecht zu sein? Sollte man nach den Maximen des Systems Familie oder des Systems Unternehmen handeln? Eine finale, allgemeingültige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht und muss demnach individuell beantwortet werden.

Aber inwiefern helfen uns, Unternehmerfamilien, nun diese Erkenntnisse?

Ich denke, es ist wichtig für Familienmitglieder, die sich sowohl im System Familie als auch im System Unternehmen befinden, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man sich in Systemen befindet, die nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Meiner Meinung nach muss man sich von dem Grundsatz „Ich bin gerecht in beiden Systemen“ freimachen und vielmehr den Umstand akzeptieren, dass dies nicht möglich ist. Somit können Familienmitglieder Entscheidungen bewusster treffen, mit dem Wissen ausgestattet, dass Gerechtigkeit in beiden Systeme etwas anderes bedeutet. Nach welcher Logik und aus welchem System kommend man Gerechtigkeit definieren und leben möchte, ist also eine ganz individuelle Entscheidung, bei der es sich lohnt, Zeit zu investieren, die eigene Richtung zu finden.

Geschrieben von Lisa Winkler, Head of Business

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